Endlich.


Im April schenkt sie sich ihre erste EP Each One Tice One zum Geburtstag, im Mai ist sie ein starker local Support auf dem Bochumer Konzert der Purple Velvet Tour. Im Juni dann besuche ich sie in Düsseldorf. Auf einem langen Spaziergang am Nachmittag durch die Stadt erzählt sie mir aus ihrem Leben – der Stoff, aus dem ihre Musik gemacht ist. Tice ist auf dem Weg nach vorne und beehrt diese Seite als einhundertfünfzigste Künstlerin.

 

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“Du hast mein Talent verkannt, Bruder / der einzige Mann, dem ich noch zuhör ist Tupac.”

 

Hut ab. Die Kopfbedeckung in der Hand vor die Brust gehalten betrachte ich ihre Erscheinung, ihre Gestalt, ihr Gesicht. Ich bin aus dem Konzept. Auch trage ich keinen Hut. Ich habe gar keinen Hut. Dennoch: ich nehme alles ab. Jede Maske, jeden zurecht gelegten Auftritt, jedes Vorhaben, wie ich das Gespräch gestalten könnte. “Du stotterst los, an mir ist alles viel zu echt.”(Irgendwann) Stimmt. Zur Begrüßung werde ich in offene Arme geschlossen, lächelnd wird mir Buffo vorgestellt, ihr treuester Begleiter. Auf dem Weg durch die Feierabendmenschenmenge im Düsseldorfer Hauptbahnhof nimmt sie den kleinen Hund auf den Arm. Der sei etwas nervös unter Leuten, neulich habe es ihm im Gedränge einen Zahn ausgeschlagen.

 

Noch während die U-Bahn einfährt trifft sie mich im Kern. Sie schaut mich unverwandt an und fragt, ob ich gerade daran denke, aus Berlin wegzugehen und woanders neu anzufangen? Ich antworte mit einem verblüfften, offenen Gesicht. Diesen Gedanken hatte ich mir selbst kaum eingestanden. Wir reden weiter. Sie kennt das Gefühl, knapp fünfzehn Jahre nach dem Auszug aus dem Elternhaus, mit nunmehr (fast) 30, an einem Punkt zu stehen, wo man vielleicht gerade noch die Kurve kriegen könnte. Nachdem es nicht geklappt hat mit dem Umfeld, mit den Beziehungen, der Szene und den Freunden. Wo man noch einmal alles ändern könnte, neu anfangen, “bevor es irgendwann komisch wird.”

 

Die Jugend ist vorbei. Und, was hat man mitgenommen? “Was mir blieb? Was soll schon davon da sein / ich wurd so wie ich bin, und ihr habt Angst vor der Wahrheit.” fassen zwei Zeilen des Tracks Ich bin so den desillusionierten Moment eines ersten Rückblicks auf das eigene Leben zusammen.

 

Sie sei selbst in Düsseldorf kaum noch ‘draußen unterwegs’, hat sich rausgezogen. Dafür sind enge Verbindungen nach Bochum entstanden. Dort ist ihre neue Struktur zu Hause, das Studio und vor allem Mo a.k.a Mo’Narch, von Sirius Sounds, Meister hinter den Aufnahmen der ersten EP Each One Tice One. Mo und Tice kennen sich seit kaum einem Jahr und trafen sich wohl gerade (noch) rechtzeitig. Wie sie sich begegnet sind, erzählt sich wie ein Märchen aus dem großen Buch der HipHop Mythen: Tice ist im Herbst 2013 auf einer Jam in Bochum unterwegs, wird an dem Abend von einer Frau angehauen, was vorzurappen, hat keinen Bock darauf, zeigt ihr dann aber was von ihrem Handy. Das Handy wird rumgereicht, einer von den anderen ist mit Mo befreundet, erzählt dem davon, der hört hin, lädt Tice in das Studio ein – und der Rest wird gerade Geschichte…

 

Wir verlassen die U-Bahn irgendwo in der Innenstadt. Während sie in den Kiosk geht um uns Bier zu holen, realisiere ich in Gedanken, dass ich weder mitgeschnitten habe, wo in dieser Stadt ich bin, noch, dass ich angefangen habe, von mir selbst zu erzählen. Das wird kein Interview. Ich habe mich bereits mitreißen lassen von ihr, werde mich treiben lassen und halte noch kurz den Wunsch fest, dass ich mir möglichst viel von dem, was Tice mir heute erzählen wird, behalten kann. “Hier, nimm ein bisschen was von meiner Seele / ein Stück von meinem Herzen mit, auf deinem Wege.”(Traum) Werde ich, ganz bestimmt.

 

Wir setzen uns am Rhein auf die Treppen. Unten an den Stufen warten Menschen, die Pfandflaschen sammeln und jeweils schauen müssen, dass die anderen nicht schneller sind als sie. Am gegenüberliegenden Ufer stehen Häuser von Leuten, die deutlich mehr Geld besitzen. Links den Rhein hoch zeigt Tice auf die weiße Fußgängerbrücke, “da haben wir das Video zu Traum gedreht”.

 

Wenn es sein muss, dann alleine…” lauten die ersten Worte dieses Tracks. Es war das erste, was ich von Tice zu hören bekam und diese Line hat mich nachhaltig beeindruckt. Das war kein ‘ich steh über euch’, kein ‘ich bin stärker und krasser und toller als ihr, ich brauch euch nicht’ Statement. Das war die nüchterne Feststellung eines ‘ich habe es mir oft und eigentlich anders gewünscht, aber offenbar ist es nicht drin.’ Gänsehaut. – Da war aber auch ein: trotzdem. Denn auch wenn es wohl oft zur Frage stand: aufgeben ist nicht. Sie wird ihren Traum von der Musik verfolgen, sie wird ihr Leben leben.

 

Das beides zusammenhängt hat mit ihrer Stimme zu tun. Tices Stimme hat einen einprägsamen, eigenartigen, tiefen Klang. Sie klingt traurig, aber auch wohltuend, vertraut. Manchmal bricht sie, leicht, im Hintergrund. Manchmal wird sie laut. Tice weiß, dass ihre Stimme stark den Eindruck prägt, den andere von ihr haben, “Manche Leute wundern sich, wenn sie erst meine Stimme hören und mich dann sehen, oder umgekehrt. Sie haben dann was anderes erwartet, hatten ein ganz anderes Bild.”

 

Ihre Stimme hat auch deshalb eine so große Bedeutung in ihrem Leben, weil es ihr so wichtig ist, verstanden zu werden, sich selbst ausdrücken zu können. “Versteht denn jemand, was ich meine / wenn ich mich erklär’?” fragt sie vorwurfsvoll in Traum. Die Zeilen des Tracks sind wie auch die Texte von Ich bin so, Irgendwann und Wenn direkter Ausdruck der Schwierigkeiten, die Tices Leben und ihre Musik so fundamental prägen. Sie sprechen davon, zu oft missverstanden worden zu sein, von den Konflikten und den Aggressionen, die daraus entstehen und von der Einsamkeit, die daraus folgt. Die Offenheit, mit der sie dabei den Verlust von Geborgenheit bedauert, zeigt, wie stark sie ist.

 

Nach unserer Begegnung verstehe ich: für Tice ist die Einsamkeit der Preis, den sie für ihre Ehrlichkeit und ihre Freiheit bezahlt. Und Freiheit bedeutet für sie, sagen zu können was sie denkt und sein zu können wer sie ist. So einfach wie das klingt, soviel Mut braucht es, diese Haltung auch zu leben.

 

Wir laufen durch die Fußgängerzone auf der Suche nach was zu essen, Marke Steinofenpizza auf die Hand. Unter einem Baum im Schatten sitzt ein kleiner Mann auf einem Mäuerchen. Vor sich hat er einen schmalen Tisch aufgebaut mit einem Schachbrett und einer Spendenschale. “Ich kann Schachspielen” bemerkt Tice im vorbeigehen, “mein Vater hat mir das beigebracht. … Er ist Musiker, baut Saiteninstrumente.”

 

Wir setzen uns in einer Nebenstraße auf die gekachelte Fensterbank der kleinen Pizzeria. Sie erzählt weiter. Rap habe sie gemeinsam mit ihrem Bruder entdeckt. Die beiden Geschwister spielten mit Reimen und machten gegenseitig erste Aufnahmen mit einem Tonbandgerät, um zu hören wie ihre Stimme darauf klingt. Beide träumen davon, einmal mit Rap Erfolg zu haben.

 

Tice ist in einem fünfzehntausend Seelen Dorf, südöstlich des Ruhrgebiets aufgewachsen. Wer selbst vom Land kommt, weiß, was das heißt. Da gibt es nicht viel, keine U-Bahn, keinen Nachtbus. Die Leute kennen sich, man redet übereinander. Für Tice war das zu eng. So, wie auch die Vorstellungen zu eng waren, die man zu Hause für ihr Leben hatte. Deshalb ging sie weg und zog, überzeugt davon, dass ihr das Leben mehr zu bieten hat, mit tausend Fragen im Kopf und der Sehnsucht nach einer noch unbestimmten Freiheit im Herzen in die Großstadt.

 

Womit Tice zu kämpfen hat, ist ein Dilemma, das auch andere betrifft: viele türkische Familien in Deutschland verarbeiten die Erfahrung sozialer und rassistischer Ausgrenzung und die Zerissenheit zwischen den Regeln ihrer Herkunftsgesellschaft und den verbreiteten Umgangsweisen hier, indem sie die Rolle ihrer Töchter besonders streng definieren. Das hat dann oft wenig mit Religion zu tun, auch wenn es so genannt wird, sondern vielmehr mit dem Versuch, in einer Situation der Unsicherheit eine feste kulturelle Identität zu wahren. Es geht dabei auch viel darum, was die anderen Leute denken könnten, was sie reden. Eine junge Frau wie Tice, die nicht bereit ist, etwas nach außen zu inszenieren, was nicht von innen kommt, hat in dieser Situation keinen Platz. Sie rebelliert. Dabei fühlt sie sich oft in ihrer Haltung verkannt. “Ich bin ja auch tätowiert, bin also keine Heilige oder so. Aber ich habe eine tiefe Verbindung zu Gott.”

 

Es geht in einer solchen Umgebung zu oft mehr darum, wer man ist, oder sogar, wer man zu sein vorgibt, als wirklich darum, was man für richtig hält. Ein Prinzip, dem Tice ihre ganze Kraft entgegestellt. Sie ärgert sich über Scheinheiligkeit und kauft manch anderen Frauen, die sich zum Beispiel mit ihrem Kleidungsstil als religiös geben, und mit dem Finger auf andere zeigen, die Aufrichtigkeit ihres Glaubens nicht ab. “Hinter dem Rücken ihrer Familien bauen die dann selbst total viel Scheiße, aber stehen nicht dazu. Das bleibt dann an Leuten wie mir hängen. Das regt mich einfach auf.” Tice hat viel aufs Spiel gesetzt. Sie steht zu ihrer Sehnsucht nach Freiheit und hält es aus, oft falsch verstanden und nicht gesehen zu werden. Da ist es frustrierend, zu sehen, wie andere es sich offenkundig einfach machen – auf Kosten anderer, Frauen wie ihr.

 

Man merkt, dass ihr das ganze Thema sehr nahe geht. Sie verliert den Faden, wir stehen auf.

 

Die zwei übrigen Ecken Pizza gibt sie den drei Punks, die vorne an der Ecke schnorren und setzt sich eine Straße weiter dem Schachwanderer unter dem Baum gegenüber. “Spielst du gegen mich?” fragt sie ihn herausfordernd. Nach ungefähr zwölf Zügen ist die Partie bereits gegen sie entschieden. “Erklärst Du mir ein paar Tricks?” fragt sie daraufhin knirschend aber freundlich ihren Gegenspieler. “Was soll ich dir erklären?” antwortet dieser, “das ist reine Erfahrung.” Beide lächeln.

 

Die Trennung von der Familie, die Einsamkeit unter Menschen, die Unangepassheit, das Ankämpfen gegen aufsteigene Erinnerungen, Bitterkeit und Resignation – aber eben auch ihre Leidenschaft für Dinge, die ihr wichtig sind, für die Musik und ihre Liebe für diejenigen, die ihr etwas bedeuten, das alles findet sich in ihren Texten wieder. Jeder Song, so Tice, sei in Gedanken an einen bestimmten Menschen entstanden. Und sie „ehre jeden Tag, an dem ein neuer Song entsteht.“(Irgendwann)

 

Each One Tice One ist für eine Erstveröffentlichung ungewohnt intensiv, denn sie steht im Zeichen der Erfahrungen einer Grenzgängerin und deren Verarbeitung in einer ignoranten Welt. Das zumindest sind die persönlichen Hintergründe zu ihrer Musik, die Tice an einem frühen Dienstagabend mit mir teilt.

 

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“Erfahrung macht einen reicher, nur ansonsten war ich arm” (Wenn).

 

Es hat geregnet zwischendurch, wir haben noch einen Spaziergang durch die Kiefernstraße gemacht. Auch Düsseldorf hatte ein Hausbesetzerszene, erfahre ich, Teile der RAF hatten sich hier organisiert. Geblieben sind die bunten Häuser und eine Szene, die weitestegehend unter sich bleibt.

 

Ein letzter Tee am Ende eines langen Tages. Wir sitzen vor dem Imbiss an der großen Straße unter einem Baugerüst. Sie schaut über die weite Kreuzung, grüßt einen alten Bekannten. “In dem Viertel hier leben viele kreative Leute. Deswegen wollen auch immer mehr Menschen hier wohnen. Dann steigen aber die Mieten und als Künstler kann man sich das eigentlich garnicht mehr leisten und zieht dann weg.” Es ist eigenartig, wie wenig manchen Leuten auffällt, wie sie mit ihrer Kaufkraft ausgerechnet jene Subkulturen aus den Innenstädten verdrängen, wegen denen sie hergezogen sind. Sie suchen die Nähe der Künstler, “…und leben dann mit ihrem Schatten.”, schließt die Dichterin meinen Satz.

 

Wir laufen aus Nord-Flingern zum Bahnhof. Sie grüßt den Mann mit dem Papagei auf der Schulter. “Den hab ich neulich auf’m Festival schon gesehen, da musste ich ihn jetzt mal ansprechen.” Augenhöhe. – Möchte sie ein Vorbild sein? Für andere Frauen und Mädchen? Irgendwie schon. Vor allem für die, die vielleicht ein Leben leben, was ihnen aufgesetzt wurde, das sie sich vielleicht garnicht selbst ausgesucht haben. Das Modell der Queen, die alleine unter Männern ist, die keine andere neben sich sein lassen kann, wegen der Konkurrenz um die Gunst der Kollegen “ist nicht mein Ding. … Auch das mit der Musik, ich mach’ das ja nicht für mich alleine. Ich finde, wenn eine Frau etwas durchkämpft, dann sollte sie das nicht nur für sich sondern auch für die anderen Frauen tun.”

 

Word.

 

Foto: Betonkultur / Illustration: ru feyron