Aus dem Spiegel in der Hand ein Mikrofon

 Ms.AT4 hat gerade ihre zweite EP Close to you veröffentlicht. aus gegebenem Anlass haben wir uns neulich dann auf einen frühen Abend in Altona getroffen.

 

 

0004612427_10…die letzten Minuten des Interviewspaziergangs mündeten am Hamburger Hauptbahnhof in die Absurdität des ganz Normalen. Gerade wollte ich abschließend einen draufsetzen und mich ein bisschen darüber lustig machen, wie Authentizitäts-Geschichte schreiben im Rap funktioniert und persifliere: „wenn ich Dich jetzt dissen wollte, würde ich in Dein Profil so was schreiben, wie: die Rapperin aus Rostock, Bezirk sowieso, ist auf der selben Straße in den gleichen Platten groß geworden wie ihre lokalen Rapkollegen Pyranja und Marteria…“.  AT, die gerade auf die Rolltreppe klettert, muss unkontrolliert laut lachen, bei der Vorstellung, sich darauf zu beziehen, dass sie ja mal auf der Geburtstagsfeier der Freundin des besten Freundes von Marteria, usw…  Zwei Stufen weiter dreht sich ein wirklich bitteres Gesicht zu uns nach unten. Und in einem Tonfall zwischen Direktorin und Pastor, so trocken und aggressiv, wie man sich das nur vorstellen kann, presst sie zwischen ihren rotgeschminkten, schmalen Lippen hervor. „So lacht ein Mädchen aber nicht!“ „So lacht ein Mädchen nicht?“ kontert AT teils provoziert aber vielmehr noch amüsiert,  „darf ich mal fragen warum?“ „Das mögen die Männer nicht.“ „Ach ja?“ „Nein, das mögen die Männer nicht.“ True story. Darauf erstmal ein Bx Gold (#frauenbier) zwischen die zehn Minuten, bis AT’s Regionalzug nach Lübeck einfährt.

 

 

 

Dort lebt sie mit ihrer Freundin und arbeitet als Lehrerin. Während des Referendariats wurde ihr am Kneipentisch von einem Kollegen empfohlen, dass gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder haben wollen, doch besser woanders hinziehen sollten. Und wohin? Na dorthin, wo es mehr davon gebe, zum Beispiel nach Hamburg Altona. Denn in der Provinz würde das die anderen ja schon stören und die Kinder (der Normalen) auch zu sehr irritieren… sigh.

 

Ms. AT4 kommt aus und bleibt in der nordeutschen Provinz, against all odds. In Rostock findet sie als Teen einen Plattenladen, verliebt sich in HipHop, kauft das Vinyl, „Ich brauchte ja auch die Instrumentals, um darauf schreiben zu können“ und entwickelt offenbar völlig unbeeindruckt von allen Rollenzuschreibungen eine englische Schreibe auf Beats, die sich mit der Zeit in stabile Flowvarianten verwandelt hat. Warum Englisch? „ich mochte die Sprache einfach gerne. Und sie war das, was ich mit Hip Hop verband. Ich habe manchmal auch das Gefühl, mich in English schöner ausdrücken zu können. …und außerdem konnten mich meine Eltern dann nicht verstehen, wenn ich zu hause in meinem Kinderzimmer geschrieben und gerappt habe.“  Und warum schreibst Du überhaupt, wie bist Du drauf gekommen? „Ich hab das Gefühl, ich muss das einfach machen! Und jetzt will ich einfach immer besser werden mit meinen Flows und den Rhymes. Das ist meine Motivation.“  hmmm, was eine schöne Antwort. Und mal ehrlich: wie viele Mädchen und junge Frauen* kennt ihr, die selbst in den Plattenladen gehen und sich einen eigenen Musikgeschmack entwickeln und zusammen stellen? Deren Playlist nicht von den Charts oder Boyfriends gefüllt wird? Die sich so zielstrebig beatgrundlagen für ihre Lyrics besorgen? Fiva MC hat in einem Interview vor vielen Jahren mal beschrieben, wie sie ihre überspielten Tapes am Anfang der Songs immer zurückgespult hat – die ersten 4 Takte sind ja meistens instrumental, ohne Lyrics – um so an Beats zum drauf schreiben zu kommen. Gut, dass es in Rostock diesen Plattenladen gab, gut dass AT dort reingelaufen ist und nach Hause gebracht hat, was ihr gefiel.

 

In Kiel, während der Studienzeit, traf sie schließlich ihre Beatproduzenten, darunter auch Lars Minute, mit dem sie ihre beiden EPs 4reignness (2012) und Close to you (2015) gebaut hat. Die Zweite ist gerade diesen Februar erschienen. Ihr Cover zeigt eine wunderschön geformte Frauenstatue aus Stein. „Ich finde diese Frau so schön, und sie erinnert mich an meine Freundin.“ In der rechten Hand hält die Figur einen Griff. Das war mal ein Spiegel, der ist aber abgebrochen. So sieht es nun aus, als habe sie ein Mic in der Hand…

 

 

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unterhalb der Bühne

Am Mittwoch war ein verdammt schöner Abend. Gavlyn und Oh Blimey spielten das letzte Konzert ihrer #tour – europe edition in der Berliner Cassiopeia und Spoke P Kaye haben als Support und Opener so viel gegeben, dass ich quasi schon hätte glücklich nach Hause gehen können.   Und in der Pause zwischen beiden Konzerten fand ein Gespräch statt, dass der eigentliche Anlass dieses Beitrages sein soll.

 

vor dem Konzert den Moment festgehalten:
Fem* Focus Session #1 mit Sookee, Gavlyn, Oh Blimey & Kaye

 

 

Die Begegnung.         Ann I. Kaa – ich nenne sie hier mal so – gestaltet jährlich ein antifaschistisches Musikfestival am nordöstlichen Rand der Stadt und beobachtet und feiert – nicht nur fürs Booking – aufmerksam, was im alternativen Hip Hop in Berlin passiert. Sie baut Bühnen für andere und gibt Zuspruch und – wie ich diesen Abend erleben durfte – stellt fragen, weil sie wissen will, was als Antwort kommt. Und sie ist sich nicht zu schade, dann mit einem offenen, staunenden Ausdruck im Gesicht zu antworten: „das wusste ich garnicht“, oder „krass, da hab ich so noch nie drüber nachgedacht.“ Wann immer ich ihr begegne ist sie außerdem mit einer Lebensfreude unterwegs, die ihr Beispiel im radikalen Untergrund sonst meist vergeblich sucht. Das musste mal gesagt werden, weil so manche freie radikale politisch Kulturschaffende des Hintergrunds oft garnicht weiß, wie wichtig ihre Arbeit und ihr Wirken sind. Auch die Basis und die Bühnen der Antifa werden nicht von Männern gebaut, im Übrigen. Auch, aber eben auch nicht.

 

Anyways. Auf jeden Fall hat Ann mir an dem Abend die Gelegenheit gegeben, das Ein oder Andere zu erzählen, was ich im Kopf habe und mich dann mit der Frage gepusht: „Sag mal, wenn Du soviel über die Sachen weißt (es ging um Rapmusik), schreibst Du eigentlich auch irgendwo darüber?“  „tjaaaaa. hmmm. ääääh. da gibt es ja diesen Blog, den ich schreibe, auf meiner Seite…“ gerate ich ins Stocken… denn immer verfolgt mich das Gefühl, zu wenig dafür zu tun, zu wenig zu schreiben, zu wenig zu posten, zu wenig zu teilen… Ich nehme dieses unzufriedene Gefühl, also das Gefühl, mit mir und meiner Arbeit unzufrieden zu sein mit nach Hause und lasse es ein paar Tage in mir grummeln und denke nach… woran hängts? (im Übrigen eine meiner lieblings Fragen) Die Sache ist die: Da waren ungefähr schon 17 Ideen für Blogbeiträge – manche haben sich dann in eine der schattigen Ecken eines Artistprofils verzogen, andere haben es nie aus meinem Kopf heraus geschafft, andere fristen ein Dasein als Skizze und verharren als Idee ohne Struktur auf Notizzetteln… wo anfangen?

 

und überhaupt: wisst ihr eigenlich, was für ein scheiß Druck auf allen Äußerungen liegt, die mit Rap und eben der Perspektive verbunden sind, die ich darauf einnehme? Viel zu oft laufen Gesrpäche ja so ab, dass es darum geht, Knowledge zu droppen und sich bloß nicht anmerken zu lassen, dass man das eine Video nicht kennt und von der anderen Künstlerin noch nie etwas gehört hat. Es geht dann eigentlich nicht mehr um die Sache, sondern darum, unter Beweis zu stellen, dass man dabei ist, dazu gehört, alles weiß, die aktuellsten Ausdrücke, Codes und Moves verinnerlicht hat, zuerst drauf gekommen ist und so weiter und so fort. Das ist so anstrengend.

 

Gleichzeitig ist es aber andersrum so, dass in Zusammenhängen und Öffentlichkeiten, die mit dem Fokus von NOBOYSBUTRAP nicht vertraut sind, meist die Logik der Ignoranz greift: wenn ich ‚als Frau‘ mitreden will über Rapmusik und einen der großen Namen nicht kenne, dann bin ich unwissend (und schäme mich). Wenn aber mein Gegenüber den Namen eines weiblichen MCs nicht kennt, dann muss das daran liegen, dass sie einfach nicht so bekannt ist, ‚man sie nicht kennt‘ (auch wenn sie zum Beispiel Heather B heißt), was heißen soll: nicht kennnen muss – weil an ihr klebt eben keine Macht.

 

Ich möchte mich nicht beobachtet fühlen (abgecheckt) und genauso wenig beweisen müssen. Wozu? und wem überhaupt? Umso schöner ist es dann, wenn Begegnungen jenseits dieser Logik laufen. Und davon handelt dieser Eintrag eigentlich – von dem Nachklang zwei respektvoller Begegnungen an einem HipHop Konzertmittwochabend…

 

Von der einen habe ich eben erzählt, die andere begab sich nach der Show: hier hatte ich einen kurzen, wenn auch intensiven Moment mit Oh Blimey backstage. Aus den paar Minuten sind ganze Gedankenstunden entstanden:   Wie gelingt es, sich selbst auch gegen existentielle Infragestellung an die eigene Oberfläche zu holen, statt als Zerrspiegel für die ignoranten und normierten Wahrnehmungen, Vorstellungen und Projektionen anderer herzuhalten? Wie gelingt es, sich in der Mimik, Gestik und in der eigenen Stimme selbstvertrauend und wohlfühlend zum Ausdruck zu bringen? Und wie gelingt es, gleichzeitig dem Gegenüber zu ermöglichen, das Selbe zu tun?

 

… es sind diese Momente, die mich zutiefst inspirieren und mir Kraft geben. Ob live in der Begegnung oder beim Recherchieren oder beim Musik hören. Deswegen mache ich das alles hier.  Auf jeden Fall habe ich mir nach diesem Abend vorgenommen, das Schreiben für diese Seite etwas leichter zu nehmen, mehr zu vertrauen, mehr zu teilen, was ich bei meinen Recherchen herausfinde und was ich mir dazu denke und den Blog damit einen Blog sein zu lassen: eine Sammlung von Einträgen aus der alltäglichen Beobachtung und Erfahrung, mit insgesamt mehr Intuition und Spontaneität und etwas weniger Druck und etwas weniger zuvorkommender Übernahme von Beweislast und damit eventuell etwas Verlust an Definitionsmacht. …wobei, wer weiß?!

 

 

thank you for listening!

 

L*

 

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Endlich.

Im April schenkt sie sich ihre erste EP Each One Tice One zum Geburtstag, im Mai ist sie ein starker local Support auf dem Bochumer Konzert der Purple Velvet Tour. Im Juni dann besuche ich sie in Düsseldorf. Auf einem langen Spaziergang am Nachmittag durch die Stadt erzählt sie mir aus ihrem Leben – der Stoff, aus dem ihre Musik gemacht ist. Tice ist auf dem Weg nach vorne und beehrt diese Seite als einhundertfünfzigste Künstlerin.

 

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“Du hast mein Talent verkannt, Bruder / der einzige Mann, dem ich noch zuhör ist Tupac.”

 

Hut ab. Die Kopfbedeckung in der Hand vor die Brust gehalten betrachte ich ihre Erscheinung, ihre Gestalt, ihr Gesicht. Ich bin aus dem Konzept. Auch trage ich keinen Hut. Ich habe gar keinen Hut. Dennoch: ich nehme alles ab. Jede Maske, jeden zurecht gelegten Auftritt, jedes Vorhaben, wie ich das Gespräch gestalten könnte. “Du stotterst los, an mir ist alles viel zu echt.”(Irgendwann) Stimmt. Zur Begrüßung werde ich in offene Arme geschlossen, lächelnd wird mir Buffo vorgestellt, ihr treuester Begleiter. Auf dem Weg durch die Feierabendmenschenmenge im Düsseldorfer Hauptbahnhof nimmt sie den kleinen Hund auf den Arm. Der sei etwas nervös unter Leuten, neulich habe es ihm im Gedränge einen Zahn ausgeschlagen.

 

Noch während die U-Bahn einfährt trifft sie mich im Kern. Sie schaut mich unverwandt an und fragt, ob ich gerade daran denke, aus Berlin wegzugehen und woanders neu anzufangen? Ich antworte mit einem verblüfften, offenen Gesicht. Diesen Gedanken hatte ich mir selbst kaum eingestanden. Wir reden weiter. Sie kennt das Gefühl, knapp fünfzehn Jahre nach dem Auszug aus dem Elternhaus, mit nunmehr (fast) 30, an einem Punkt zu stehen, wo man vielleicht gerade noch die Kurve kriegen könnte. Nachdem es nicht geklappt hat mit dem Umfeld, mit den Beziehungen, der Szene und den Freunden. Wo man noch einmal alles ändern könnte, neu anfangen, “bevor es irgendwann komisch wird.”

 

Die Jugend ist vorbei. Und, was hat man mitgenommen? “Was mir blieb? Was soll schon davon da sein / ich wurd so wie ich bin, und ihr habt Angst vor der Wahrheit.” fassen zwei Zeilen des Tracks Ich bin so den desillusionierten Moment eines ersten Rückblicks auf das eigene Leben zusammen.

 

Sie sei selbst in Düsseldorf kaum noch ‘draußen unterwegs’, hat sich rausgezogen. Dafür sind enge Verbindungen nach Bochum entstanden. Dort ist ihre neue Struktur zu Hause, das Studio und vor allem Mo a.k.a Mo’Narch, von Sirius Sounds, Meister hinter den Aufnahmen der ersten EP Each One Tice One. Mo und Tice kennen sich seit kaum einem Jahr und trafen sich wohl gerade (noch) rechtzeitig. Wie sie sich begegnet sind, erzählt sich wie ein Märchen aus dem großen Buch der HipHop Mythen: Tice ist im Herbst 2013 auf einer Jam in Bochum unterwegs, wird an dem Abend von einer Frau angehauen, was vorzurappen, hat keinen Bock darauf, zeigt ihr dann aber was von ihrem Handy. Das Handy wird rumgereicht, einer von den anderen ist mit Mo befreundet, erzählt dem davon, der hört hin, lädt Tice in das Studio ein – und der Rest wird gerade Geschichte…

 

Wir verlassen die U-Bahn irgendwo in der Innenstadt. Während sie in den Kiosk geht um uns Bier zu holen, realisiere ich in Gedanken, dass ich weder mitgeschnitten habe, wo in dieser Stadt ich bin, noch, dass ich angefangen habe, von mir selbst zu erzählen. Das wird kein Interview. Ich habe mich bereits mitreißen lassen von ihr, werde mich treiben lassen und halte noch kurz den Wunsch fest, dass ich mir möglichst viel von dem, was Tice mir heute erzählen wird, behalten kann. “Hier, nimm ein bisschen was von meiner Seele / ein Stück von meinem Herzen mit, auf deinem Wege.”(Traum) Werde ich, ganz bestimmt.

 

Wir setzen uns am Rhein auf die Treppen. Unten an den Stufen warten Menschen, die Pfandflaschen sammeln und jeweils schauen müssen, dass die anderen nicht schneller sind als sie. Am gegenüberliegenden Ufer stehen Häuser von Leuten, die deutlich mehr Geld besitzen. Links den Rhein hoch zeigt Tice auf die weiße Fußgängerbrücke, “da haben wir das Video zu Traum gedreht”.

 

Wenn es sein muss, dann alleine…” lauten die ersten Worte dieses Tracks. Es war das erste, was ich von Tice zu hören bekam und diese Line hat mich nachhaltig beeindruckt. Das war kein ‘ich steh über euch’, kein ‘ich bin stärker und krasser und toller als ihr, ich brauch euch nicht’ Statement. Das war die nüchterne Feststellung eines ‘ich habe es mir oft und eigentlich anders gewünscht, aber offenbar ist es nicht drin.’ Gänsehaut. – Da war aber auch ein: trotzdem. Denn auch wenn es wohl oft zur Frage stand: aufgeben ist nicht. Sie wird ihren Traum von der Musik verfolgen, sie wird ihr Leben leben.

 

Das beides zusammenhängt hat mit ihrer Stimme zu tun. Tices Stimme hat einen einprägsamen, eigenartigen, tiefen Klang. Sie klingt traurig, aber auch wohltuend, vertraut. Manchmal bricht sie, leicht, im Hintergrund. Manchmal wird sie laut. Tice weiß, dass ihre Stimme stark den Eindruck prägt, den andere von ihr haben, “Manche Leute wundern sich, wenn sie erst meine Stimme hören und mich dann sehen, oder umgekehrt. Sie haben dann was anderes erwartet, hatten ein ganz anderes Bild.”

 

Ihre Stimme hat auch deshalb eine so große Bedeutung in ihrem Leben, weil es ihr so wichtig ist, verstanden zu werden, sich selbst ausdrücken zu können. “Versteht denn jemand, was ich meine / wenn ich mich erklär’?” fragt sie vorwurfsvoll in Traum. Die Zeilen des Tracks sind wie auch die Texte von Ich bin so, Irgendwann und Wenn direkter Ausdruck der Schwierigkeiten, die Tices Leben und ihre Musik so fundamental prägen. Sie sprechen davon, zu oft missverstanden worden zu sein, von den Konflikten und den Aggressionen, die daraus entstehen und von der Einsamkeit, die daraus folgt. Die Offenheit, mit der sie dabei den Verlust von Geborgenheit bedauert, zeigt, wie stark sie ist.

 

Nach unserer Begegnung verstehe ich: für Tice ist die Einsamkeit der Preis, den sie für ihre Ehrlichkeit und ihre Freiheit bezahlt. Und Freiheit bedeutet für sie, sagen zu können was sie denkt und sein zu können wer sie ist. So einfach wie das klingt, soviel Mut braucht es, diese Haltung auch zu leben.

 

Wir laufen durch die Fußgängerzone auf der Suche nach was zu essen, Marke Steinofenpizza auf die Hand. Unter einem Baum im Schatten sitzt ein kleiner Mann auf einem Mäuerchen. Vor sich hat er einen schmalen Tisch aufgebaut mit einem Schachbrett und einer Spendenschale. “Ich kann Schachspielen” bemerkt Tice im vorbeigehen, “mein Vater hat mir das beigebracht. … Er ist Musiker, baut Saiteninstrumente.”

 

Wir setzen uns in einer Nebenstraße auf die gekachelte Fensterbank der kleinen Pizzeria. Sie erzählt weiter. Rap habe sie gemeinsam mit ihrem Bruder entdeckt. Die beiden Geschwister spielten mit Reimen und machten gegenseitig erste Aufnahmen mit einem Tonbandgerät, um zu hören wie ihre Stimme darauf klingt. Beide träumen davon, einmal mit Rap Erfolg zu haben.

 

Tice ist in einem fünfzehntausend Seelen Dorf, südöstlich des Ruhrgebiets aufgewachsen. Wer selbst vom Land kommt, weiß, was das heißt. Da gibt es nicht viel, keine U-Bahn, keinen Nachtbus. Die Leute kennen sich, man redet übereinander. Für Tice war das zu eng. So, wie auch die Vorstellungen zu eng waren, die man zu Hause für ihr Leben hatte. Deshalb ging sie weg und zog, überzeugt davon, dass ihr das Leben mehr zu bieten hat, mit tausend Fragen im Kopf und der Sehnsucht nach einer noch unbestimmten Freiheit im Herzen in die Großstadt.

 

Womit Tice zu kämpfen hat, ist ein Dilemma, das auch andere betrifft: viele türkische Familien in Deutschland verarbeiten die Erfahrung sozialer und rassistischer Ausgrenzung und die Zerissenheit zwischen den Regeln ihrer Herkunftsgesellschaft und den verbreiteten Umgangsweisen hier, indem sie die Rolle ihrer Töchter besonders streng definieren. Das hat dann oft wenig mit Religion zu tun, auch wenn es so genannt wird, sondern vielmehr mit dem Versuch, in einer Situation der Unsicherheit eine feste kulturelle Identität zu wahren. Es geht dabei auch viel darum, was die anderen Leute denken könnten, was sie reden. Eine junge Frau wie Tice, die nicht bereit ist, etwas nach außen zu inszenieren, was nicht von innen kommt, hat in dieser Situation keinen Platz. Sie rebelliert. Dabei fühlt sie sich oft in ihrer Haltung verkannt. “Ich bin ja auch tätowiert, bin also keine Heilige oder so. Aber ich habe eine tiefe Verbindung zu Gott.”

 

Es geht in einer solchen Umgebung zu oft mehr darum, wer man ist, oder sogar, wer man zu sein vorgibt, als wirklich darum, was man für richtig hält. Ein Prinzip, dem Tice ihre ganze Kraft entgegestellt. Sie ärgert sich über Scheinheiligkeit und kauft manch anderen Frauen, die sich zum Beispiel mit ihrem Kleidungsstil als religiös geben, und mit dem Finger auf andere zeigen, die Aufrichtigkeit ihres Glaubens nicht ab. “Hinter dem Rücken ihrer Familien bauen die dann selbst total viel Scheiße, aber stehen nicht dazu. Das bleibt dann an Leuten wie mir hängen. Das regt mich einfach auf.” Tice hat viel aufs Spiel gesetzt. Sie steht zu ihrer Sehnsucht nach Freiheit und hält es aus, oft falsch verstanden und nicht gesehen zu werden. Da ist es frustrierend, zu sehen, wie andere es sich offenkundig einfach machen – auf Kosten anderer, Frauen wie ihr.

 

Man merkt, dass ihr das ganze Thema sehr nahe geht. Sie verliert den Faden, wir stehen auf.

 

Die zwei übrigen Ecken Pizza gibt sie den drei Punks, die vorne an der Ecke schnorren und setzt sich eine Straße weiter dem Schachwanderer unter dem Baum gegenüber. “Spielst du gegen mich?” fragt sie ihn herausfordernd. Nach ungefähr zwölf Zügen ist die Partie bereits gegen sie entschieden. “Erklärst Du mir ein paar Tricks?” fragt sie daraufhin knirschend aber freundlich ihren Gegenspieler. “Was soll ich dir erklären?” antwortet dieser, “das ist reine Erfahrung.” Beide lächeln.

 

Die Trennung von der Familie, die Einsamkeit unter Menschen, die Unangepassheit, das Ankämpfen gegen aufsteigene Erinnerungen, Bitterkeit und Resignation – aber eben auch ihre Leidenschaft für Dinge, die ihr wichtig sind, für die Musik und ihre Liebe für diejenigen, die ihr etwas bedeuten, das alles findet sich in ihren Texten wieder. Jeder Song, so Tice, sei in Gedanken an einen bestimmten Menschen entstanden. Und sie „ehre jeden Tag, an dem ein neuer Song entsteht.“(Irgendwann)

 

Each One Tice One ist für eine Erstveröffentlichung ungewohnt intensiv, denn sie steht im Zeichen der Erfahrungen einer Grenzgängerin und deren Verarbeitung in einer ignoranten Welt. Das zumindest sind die persönlichen Hintergründe zu ihrer Musik, die Tice an einem frühen Dienstagabend mit mir teilt.

 

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“Erfahrung macht einen reicher, nur ansonsten war ich arm” (Wenn).

 

Es hat geregnet zwischendurch, wir haben noch einen Spaziergang durch die Kiefernstraße gemacht. Auch Düsseldorf hatte ein Hausbesetzerszene, erfahre ich, Teile der RAF hatten sich hier organisiert. Geblieben sind die bunten Häuser und eine Szene, die weitestegehend unter sich bleibt.

 

Ein letzter Tee am Ende eines langen Tages. Wir sitzen vor dem Imbiss an der großen Straße unter einem Baugerüst. Sie schaut über die weite Kreuzung, grüßt einen alten Bekannten. “In dem Viertel hier leben viele kreative Leute. Deswegen wollen auch immer mehr Menschen hier wohnen. Dann steigen aber die Mieten und als Künstler kann man sich das eigentlich garnicht mehr leisten und zieht dann weg.” Es ist eigenartig, wie wenig manchen Leuten auffällt, wie sie mit ihrer Kaufkraft ausgerechnet jene Subkulturen aus den Innenstädten verdrängen, wegen denen sie hergezogen sind. Sie suchen die Nähe der Künstler, “…und leben dann mit ihrem Schatten.”, schließt die Dichterin meinen Satz.

 

Wir laufen aus Nord-Flingern zum Bahnhof. Sie grüßt den Mann mit dem Papagei auf der Schulter. “Den hab ich neulich auf’m Festival schon gesehen, da musste ich ihn jetzt mal ansprechen.” Augenhöhe. – Möchte sie ein Vorbild sein? Für andere Frauen und Mädchen? Irgendwie schon. Vor allem für die, die vielleicht ein Leben leben, was ihnen aufgesetzt wurde, das sie sich vielleicht garnicht selbst ausgesucht haben. Das Modell der Queen, die alleine unter Männern ist, die keine andere neben sich sein lassen kann, wegen der Konkurrenz um die Gunst der Kollegen “ist nicht mein Ding. … Auch das mit der Musik, ich mach’ das ja nicht für mich alleine. Ich finde, wenn eine Frau etwas durchkämpft, dann sollte sie das nicht nur für sich sondern auch für die anderen Frauen tun.”

 

Word.

 

Foto: Betonkultur / Illustration: ru feyron

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noboysbutrap

from the books I’ve learnt, history was a work in progress; from the market I’ve learnt, rap was a boy’s game…see: that’s history! Game over. female rap, hiphop feminism, grrrls who rap, women in hiphop…is out there as long as hip hop herself.

 

only: If you ask a random rap-fan, they will name you one or two, maybe five nonmale rappers. in case they’re good, they say that they don’t know about more. otherwise you hear them pretending there ain’t more. Often those few named will be rated against each other, with one ‚queen‘ to stand out – only to disqualify [rather verbally destroy] the skills and images of the others. see: It’s not a question of quantity but a question of power, of cultural agenda, desires and phantasies…of what/who is perceived being cool, hard, raw and is allowed to become real.

 

so, hypermasculinity and it’s projections occupy the ether, the dancefloors, the speakers, the studios, the bars, the meanings… well, while the female takeover movement is celebrating her side of the stories in UK, noboysbutrap is my contribution to a different perception of rap as an art I dearly love.

 

Uh, vagina monologues? yes. or rather: vulva’s lips spittin‘. Though I do by no means pretend, the ‚female‘ voice was less evil than others – as we speak with our mothers‘ tongues as much as their sons and as much as our brothers. Also we are very powerful in any aspect, good or bad. to me it’s a question of perspectivity: who’s side of the story is told and taken seriously? is amplified? [dot!]

 

nevertheless there is artists portrayed in this collection who represent opinios that I disapprove of or of whom I think that they are discriminating, some even politically dangerous. I am aware of that – yet they are part of the picture. Let’s take them seriously and disagree with what they say.

 

to all the artists: this album does not suggest to represent your artwork in every aspects and with all your facets. noboysbutrap as a webpage and blog is the result of nine years of research I’ve done so far, and yet it is not even completed. however, we decided to open the page and present it as a work in process, feeding in our knowledge successively. there is sixty more artists I have in my database and still have to incorporate. I know that this work will always be insufficient anyhow. You speak for yourself and I thank you for the powerful lyrics you shout out in the world. you’ve pushed me to get through things many times.

my idea is to share what I’ve heard and seen and what I understand from you with a broader audience. Please let me know if you feel uncomfortable with anything in your profile. Or even better: let me know if I lack important information about your work or if you’re not in my database but think you wanna be here!

 

…and guys: I know there is some of you, who do not deserve to be excluded here, as you never voluntarily participated in a culture of male dominance – I do apologize for the simplified frame that the strategy of noboysbutrap might suggest. Here, I wanna amplify voices, that are regularly marginalized cos others are turned up too loud. It is indeed a strategy, one chosen within alternatives that are

aiming at a dancefloor, where sexism is marginalized not females objectified; aiming at radioshows, where DJs select their music out of the whole range of rap-art; aiming at a culture, where misogynist, disempowering lyrics get openly and proudly disqualified by the majority; aiming at a production scene where girls in the studio and on the stages no longer feel like they had to prove to be ‚as good as‘ or special compared to the other btchs; aiming at a sub|culture where we get supported as to live up to our own potential. Cos we’re born to build – what? – relationships where education and enlightment dominate!

 

ok, before I leave you with the state of the art that is in process here, I feel the need to give some shout outs to some people who may or may not know that I owe them the fact that this project actually becomes real: first, Amanda, if it wasn’t for you who played NolayAngels and Fly in your car while we were cruising the streets of Berlin back in 2005, well maybe I wouldn’t have started listening to rap again [Shystie!]. To St*, you know what you did. I know you booked me for the first all female rap DJ gig I ever had, thanks for that and many other things. M*. Eternia. yes. RZA forever? I know in the end I have to make at least one concession to you, right. hang on, with JZ&B:B&C ’03 and Alicia in NYC we’re for real! Sookee – you made me believe in things again when they got precarious, thank you many times, also for your professional support! L*ove to Forbiddan, working so hard on my self-esteem while challenging my mindset till exhaustion – uh, what are you talking about!? and respect to the Queerfeminist Saloon Berlin – Wee rule!!!

 

above all the above: an extra cake goes to my beloved brother: with double chocolate fudge and cream. he by the way is responsible for the technical and aesthetic part of this project as sickboi illdesign. Actually, I kinda dedicate my work to you boy!

 

L

 

disclaimer: Pas a Vendre! noboysbutrap does not pursue any commercial interest. we do not intend to violate any ownership restrictions whatsoever. Our interest in the shown material is of journalistic and promotional nature only.

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